In den USA und in Europa verbreitet sich das Coronavirus rasant. Mit welchen weiteren Maßnahmen ließe sich das Virus effektiv eindämmen, bis ein Impfstoff zur Verfügung steht? Darüber wird seit Wochen diskutiert. Klar ist: Lockdowns können Infektionszahlen zwar effektiv drücken, sie richten aber wirtschaftlichen Schaden an und sind auch für weite Teile der Bevölkerung eine große emotionale Belastungsprobe. Neben den AHA-L-Regeln ist die Kontaktnachverfolgung der Gesundheitsämter eine wichtige Säule bei der Eindämmung. Wenn die Zahl der Infektionen zu stark steigt und die Behörden nicht mehr hinterherkommen, gerät jedoch auch sie ins Wanken.
Mehr als 23.600 Fälle
Höchststand bei Corona-Neuinfektionen – doch dieser Rekordwert ist auch eine gute Nachricht
Im "Time"-Magazine entwirft der Epidemiologe Michael Mina ein Szenario, das verlockend klingt: Der Harvard-Wissenschaftler sieht in den neu entwickelten Antigentests großes und bislang nicht gehobenes Potenzial. Seiner Vorstellung nach sollten die Tests, die an Schwangerschaftstests erinnern, großflächig in der Bevölkerung zum Einsatz kommen. Würde sich die Hälfte der Bevölkerung alle vier Tage selbst auf das Coronavirus testen, könnte bereits eine Art "Herden-Effekt" erreicht werden, der jenem durch einen Impfstoff gleiche, so Mina. Die Zeit, bis ein sicherer und wirksamer Impfstoff für weite Teile der Bevölkerung zur Verfügung stünde, könnte seiner Ansicht nach mit einer nationalen Antigen-Teststrategie überbrückt werden.
Antigentests schlagen vor allem dann an, wenn Menschen das Virus mit hoher Wahrscheinlichkeit weitergeben würden – also besonders infektiös sind. Isolieren sich Menschen nach einem positiven Testergebnis, könnten Infektionsketten unterbrochen werden, ehe sie überhaupt entstehen, schätzt Mina. "Wiederholte Antigentests, die in der Fläche zum Einsatz kommen, sind das bestmögliche Instrument, das uns aktuell zur Verfügung steht – und wir verwenden es nicht", schreibt der Experte, der als Epidemiologe an der Harvard T.H. Chan School of Public Health in Boston, Massachusetts, arbeitet.
Der Einsatz der Tests könnte die Ausbreitung des Virus "erheblich verringern", auch ohne einen Shutdown, schreibt Mina und stellt eine verlockende Prognose in Aussicht: "Würden wir heute handeln, könnten wir unsere Liebsten sehen, wieder zur Schule gehen, arbeiten und reisen – alles noch vor Weihnachten."
„Shutdowns komplett verhindern“
Der Gesundheitsökonom Karl Lauterbach diskutiert den Vorschlag auf Twitter: "Ist es technisch möglich? Ja. Es müssten aber Kosten von ca. 500 Euro pro Person und für ganzes Jahr gerechnet werden", heißt es in einem Post des SPD-Bundestagsabgeordneten. "Trotzdem würde diese Strategie, selbst wenn nur 50% mitmachen, Shutdowns komplett verhindern."
In der Realität gibt es für die mögliche Teststrategie allerdings noch etliche Hürden: Die Antigentests müssten in hoher Stückzahl produziert und verteilt werden, die Menschen außerdem darin unterrichtet werden, wie sie den Nasenabstrich zuhause selbst fachgerecht vornehmen können. Nicht zuletzt braucht es Aufklärung für die richtige Interpretation der Ergebnisse und eine ausreichend große Anzahl an Menschen, die bereit sind, sich regelmäßig selbst zu testen. Letzteres ist nach Minas Ansicht allerdings kein Problem: "Die Leute wollen – einfach ausgedrückt– wissen, ob sie oder ihre Haushaltsmitglieder infiziert und vor allem ansteckend sind." Seit dieser Woche ist in den USA ein Corona-Test für den Heimgebrauch zugelassen. Das Testkit stammt von dem Hersteller Lucira Health.
Ein bekanntes Phänomen bei Antigentests ist, dass sie in einigen Fällen falsch-positive Testergebnisse liefern können. In Deutschland muss deshalb ein positiver Antigentest mit einem PCR-Test bestätigt werden. Wie aber soll das bei einer möglichen Flächentestung in der Bevölkerung ablaufen? Michael Mina schlägt vor, zu jedem Paket mit Teststreifen noch weitere Tests zur Bestätigung beizulegen. Fällt das Testergebnis positiv aus, könne sofort ein weiterer Test zur Bestätigung gemacht werden. Zeigt auch dieser ein positives Ergebnis an, "bleiben Sie zu Hause und isolieren sich". Bei negativem Zweitergebnis müsse der Test am folgenden Tag wiederholt werden.
Antigentests in Deutschland
In Deutschland kommen Antigentests laut nationaler Teststrategie bisher nur in bestimmten Fällen zum Einsatz: Sie werden etwa für symptomlose Besucher von Pflegeeinrichtungen oder Krankenhäusern empfohlen und dienen als weitere Sicherheitsvorkehrung. Auch bei negativem Testergebnis müssen Hygiene- und Abstandsregeln weiterhin eingehalten werden. Der Test kann nämlich nicht zweifelsfrei ausschließen, dass eine Person nicht doch mit dem Virus infiziert ist – womöglich ist sie aber zum Zeitpunkt des Tests nicht besonders ansteckend. Generell sind Antigentests weniger sensitiv als der PCR-Test, es ist also eine größere Virusmenge nötig, damit der Test ein positives Ergebnis zeigt. Die Abstriche für einen Antigentest müssen derzeit von medizinischem Personal genommen werden. Ende September stellte Gesundheitsminister Jens Spahn auch Coronatests für den Heimgebrauch in Deutschland in Aussicht – allerdings ohne ein konkretes Datum zu nennen.
In anderen Ländern laufen bereits erste Versuche mit Antigen-Massentests: Neben der Slowakei hat auch Südtirol mit groß angelegten Testaktionen für die Bevölkerung begonnen. Im norditalienischen Venetien gibt es auch erste Versuche mit Corona-Testsets für den Heimgebrauch.
Quelle: Time / Twitter
Quelle: Den ganzen Artikel lesen